Samhain: Wenn der Schleier zwischen den Welten sich lüftet

Die Luft trägt jetzt jenen besonderen Duft von feuchtem Laub und kaltem Stein. Die goldenen Oktobertage weichen grauen Nebelschleiern, und die Abende werden länger, geheimnisvoller. Während die Natur sich zur Ruhe begibt, spüren viele von uns jenen seltsamen Zug in der Magengrube – eine Mischung aus Wehmut und freudiger Erwartung. In diesen Tagen rund um den 31. Oktober feiert die moderne Welt Halloween mit Kostümen und Süßigkeiten. Doch unter dieser oberflächlichen Schicht schlägt ein uraltes Herz: Samhain.

Samhain

✨Die Wurzeln im keltischen Jahreskreis

Samhain (ausgesprochen etwa „Sau-en“) markierte im keltischen Kalender nicht einfach nur den Beginn der dunklen Jahreszeit. Es war der keltische Neujahrstag, der bedeutendste der vier großen Feuerfeste. Während wir heute unser Jahr am 1. Januar beginnen, starteten die Kelten ihren Zyklus in der Dunkelheit – eine weise Anerkennung, dass alles Leben aus der Finsternis kommt, genauso wie das Samenkorn in der Erde keimt.

Die Festlichkeiten begannen stets am Abend des 31. Oktobers, denn für die Kelten begann der neue Tag mit der Nacht. Diese Denkweise allein verrät uns viel über ihre Weltsicht: Zuerst kommt die Dunkelheit, dann das Licht. Zuerst die Ruhe, dann die Aktivität. Zuerst das Nach-Innen-Gehen, dann das Nach-Außen-Wirken.

✨Die dünnste Stelle im Schleier

Was Samhain wirklich von anderen Festtagen unterscheidet, ist der tief verwurzelte Glaube, dass in dieser Nacht der Schleier zwischen den Welten – zwischen unserer Alltagswelt und der Anderswelt – so dünn wird wie flirrendes Herbstlicht. Diese Vorstellung ist weit mehr als ein abergläubisches Konstrukt. Sie entspringt der unmittelbaren Erfahrung, die Menschen in enger Verbindung mit der Natur machten.

Die Kelten glaubten, dass in dieser Schwellenzeit die Verstorbenen leichteren Zugang zu unserer Welt fanden. Doch anders als in modernen Horrorgeschichten dachte man nicht an bedrohliche Gespenster. Vielmehr kehrten die Ahnen heim, um am Herdfeuer ihrer Familien teilzuhaben. Man bereitete ihnen zusätzliche Gedecke am Tisch vor, stellte Speisen und Getränke vor die Tür und ließ Kerzen in den Fenstern brennen, um ihnen den Weg zu leuchten.

Gleichzeitig war diese Öffnung zwischen den Welten nicht ohne Risiko. Neben den friedlichen Ahnen konnten auch andere Wesenheiten – die sogenannten Aos Sí oder Feenwesen – hereintreten. Um sich vor diesen möglicherweise unberechenbaren Besuchern zu schützen, entwickelten sich verschiedene Schutzbräuche. Die Menschen verkleideten sich mit gruseligen Masken, um von den Geistern nicht erkannt zu werden. Sie schnitzten Fratzen in Rüben (später in Kürbisse) und stellten sie mit Licht versehen vor ihre Behausungen, um böse Einflüsse abzuwehren.

✨Die heiligen Feuer von Samhain

Im Zentrum der Feierlichkeiten standen die Feuer. In jeder Gemeinschaft wurden große Feuer entzündet, die nicht nur Wärme spendeten, sondern eine tiefere symbolische Bedeutung hatten. Diese Flammen repräsentierten die Fortführung des Lebens auch in der dunkelsten Zeit. Sie waren ein kollektiver Akt des Widerstands gegen die zunehmende Finsternis.

In vielen Regionen wurde das Herdfeuer in jedem Haushalt gelöscht, um es dann mit einer Flamme vom gemeinsamen Samhain-Feuer neu zu entfachen. Dieser Akt schuf eine sichtbare Verbindung zwischen der Gemeinschaft und jeder einzelnen Familie. Das mitgebrachte Feuer sollte Schutz und Segen für den kommenden Winter ins Haus bringen.

✨Von Samhain zu Allerheiligen – eine christliche Transformation

Als das Christentum nach Nordeuropa expandierte, traf es auf diese tief verwurzelten Traditionen. Anstatt sie zu bekämpfen, wählte die Kirche oft den Weg der Integration und Umdeutung. Im 8. Jahrhundert legte Papst Gregor III. das Fest Allerheiligen auf den 1. November, und Papst Gregor IV. machte es für die gesamte westliche Kirche verbindlich.

Der Abend vor Allerheiligen wurde als „All Hallows‘ Eve“ bekannt – woraus sich später „Halloween“ entwickelte. Der 2. November wurde zum Allerseelen-Tag. Die christlichen Feste überlagerten die heidnischen, aber die grundlegende Thematik blieb erhalten: Die Verbindung zu den Verstorbenen, die Ehrung der Ahnen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit.

Interessanterweise zeigt sich in dieser Entwicklung eine kulturelle Kontinuität, die selten thematisiert wird. Die Kirche christianisierte nicht nur heidnische Feste – sie anerkannte damit auch die archetypische Menschheitserfahrung, die diesen Festen zugrunde lag (aber darüber lässt sich bestimmt gut streiten 😉). Die Sehnsucht, mit den Verstorbenen verbunden zu bleiben, ist universell und überlebt jeden religiösen Wandel.

✨Samhain heute – eine Einladung zur Besinnung

In unserer modernen, schnelllebigen Welt gewinnt Samhain eine neue Bedeutung. Abseits von Kommerz und Kürbislaternen bietet dieses Fest eine wertvolle Gelegenheit zur Einkehr und Reflexion.

Samhain lädt uns ein, die eigene Verbindung zum Zyklus von Leben und Tod zu bedenken. Es ist ein guter Moment, um Fotos verstorbener Liebener anzuschauen, ihre Geschichten zu erzählen oder einfach still zu werden und ihrer zu gedenken. Man kann eine Kerze anzünden, einen Lieblingsgegenstand der Verstorbenen in die Hand nehmen oder einen Ort aufsuchen, der mit ihnen verbunden ist.

Gleichzeitig können wir Samhain nutzen, um Altes loszulassen – Gewohnheiten, Gedankenmuster oder Beziehungen, die uns nicht mehr dienen. So wie die Bäume ihre Blätter fallen lassen, dürfen wir Ballast abwerfen, um gestärkt durch den Winter zu gehen.

Die Essenz von Samhain bleibt bestehen, egal unter welchem Namen wir es feiern: Es ist die Anerkennung, dass die Dunkelheit nicht unser Feind ist, sondern ein notwendiger Teil des Ganzen. Dass die Stille und die Ruhe des Winters ihre eigene Weisheit bergen. Und dass die Verbindung zu denen, die vor uns gegangen sind, niemals wirklich abbricht – sie verwandelt sich nur.

In dieser besonderen Nacht, wenn der Schleier zwischen den Welten am dünnsten ist, dürfen wir uns erinnern: Wir sind Teil eines großen, ewigen Zyklus, in dem Tod und Leben zwei Seiten derselben Medaille sind.

Namasté
George

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